Von Hajo Seppelt und Christian Siepmann
Der deutsche Leistungssport steht vor einer historischen Zäsur. Die Vertreter der Athletinnen und Athleten stehen unmittelbar vor der Gründung einer eigenen Interessenvertretung der Sportler – unabhängig vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), der Dachorganisation des deutschen Sports.
Das kündigten die Kanutin Silke Kassner und der Säbelfechter Maximilian Hartung im Gespräch mit der ARD-Sportschau an. Hartung ist bislang Vorsitzender der Athletenkommission innerhalb des DOSB, Kassner seine Stellvertreterin.
„Wir glauben, dass die Stimme der Athleten eigenständig formuliert sein sollte. Und dass wir mit einer eigenen Organisation die Möglichkeit haben, die Stimme der Athleten unabhängig zu formulieren“, sagt Hartung. „Wir wollen auf Augenhöhe mit den anderen Akteuren des Sports sprechen können. Das war bisher nicht der Fall.“ Eine Vollversammlung der Athletenvertreter soll am 15. Oktober in Köln über die Neugründung entscheiden. Als Name der Organisation soll „Athleten Deutschland“ vorgeschlagen werden. Es ist davon auszugehen, dass die Vollversammlung der Neugründung zustimmt.
Unzufrieden mit der DOSB-Athletenkommission
Bislang sind nach Satzung des DOSB die Interessen der Leistungssportler über das Vehikel der DOSB-Athletenkommission vertreten worden – also innerhalb des Verbandes. Doch selbst Hartung und Kassner als Vorsitzende sind mit dem Funktionieren dieser Konstellation offenbar unzufrieden. Sportler wollten sich einbringen, sagte Kassner, „und es ist einfach mittlerweile an der Zeit, dass tatsächlich auch die Verbände akzeptieren, dass die Athleten tatsächlich ein wirklich valider Gesprächspartner auf Augenhöhe sind und nicht nur ein Feigenblatt in einer Satzung.“
Athleten seien zwar die Protagonisten im Leistungssport und in allen Gremien vertreten, „aber tatsächlich immer in der Minderheit, sodass eigentlich nie die Interessen oder Vorschläge der Athleten wirklich auch gegenüber einer Mehrheit in den Gremien, in Sportverbänden durchgesetzt werden können“, beschreibt Kassner die derzeitige Situation. „Athleten Deutschland“ soll deshalb laut Satzungsentwurf, der der ARD-Sportschau vorliegt, zu einem Netzwerk der Athletenvertreter der olympischen, nichtolympischen und paralympischen Spitzenverbände werden. Die neue, unabhängige Interessenvertretung wird sich – so die Planung – als eingetragener Verein organisieren, eine Geschäftsstelle unterhalten und einen Geschäftsführer anstellen. Finanziert werden soll diese Arbeit durch öffentliche und private Zuwendungen, Spenden, Vermarktungserlöse und sonstige Einnahmen.
Kampf gegen Doping und gegen sexualisierte Gewalt
Zweck des Vereins ist auch die finanzielle und operative Unterstützung der Aufgaben der Athletenkommission im DOSB und der Spitzenverbände des Sports. „Athleten Deutschland“ soll unter anderem den Kampf gegen Doping und gegen sexualisierte Gewalt im Sport unterstützen und sich auf dem Feld der Athletenförderung engagieren.
Wichtigster Auslöser für den Wunsch nach einer eigenen, unabhängigen und schlagkräftigen Interessenvertretung der deutschen Sportler war der Skandal um das Staatsdoping in Russland, der auch durch ARD-Recherchen aufgedeckt worden war. Die Situation im vergangenen Jahr, als wochenlang über den Ausschluss der russischen Mannschaft von den Olympischen Spielen in Rio debattiert wurde, sei für die deutschen Athleten und ihre Vertreter frustrierend gewesen, berichten Kassner und Hartung.
Kassner sagt: „Wir waren relativ ohnmächtig, weil wir uns als Athletenvertreter gar nicht so weit einbringen konnten, dass wir die Entscheidungen rund um eine Entscheidung, ob Russland an den Olympischen Spielen teilnehmen darf oder nicht, einfach gar nicht beeinflussen konnten.“ Am Ende konnten viele russische Athleten nach einer Prüfung durch verschiedene Gremien an den Spielen von Rio teilnehmen.
Engagement für bessere Absicherung von Spitzensportlern
Kassner und Hartung nennen noch andere Anliegen, die eine vom DOSB unabhängige Interessenvertretung der Sportler auf die Agenda setzen soll. So etwa angemessene Qualifikations- und Nominierungskriterien für internationale Wettkämpfe. Säbelfechter Hartung kündigt zudem an, man wolle sich insbesondere für die Sportler einsetzen, „die bisher nicht gefördert werden durch Bundeswehr, Zoll oder Polizei. Wir glauben, dass eine Lücke ist in der Athletenförderung. Viele Sportler haben nicht genug Sicherheit was die nächsten Monate angeht. Und ich glaube, dass man mit finanziellen Ängsten keine Höchstleistungen erbringen kann.“
Spitzensportler, die nicht als Soldaten, Zöllner oder Polizisten ein Gehalt beziehen, sind in besonderem Maße auf die Förderung durch die Stiftung Deutsche Sporthilfe angewiesen. Silke Kassner berichtet: „Die Einkünfte vieler Sportler liegen oft unter dem Niveau des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns.“
Sporthilfe und NADA auf Seiten der Sportler
Dem Vernehmen nach unterstützen Vertreter des für den Sport zuständigen Bundesinnenministeriums die Initiative für die Eigenständigkeit deutscher Athleten. So ist von einer nennenswerten sechsstelligen Summe die Rede, mit der man das Projekt anschieben könne. Eine Entscheidung dazu ist aber noch nicht gefallen. Hartung und Kassner taxieren die Kosten für eine professionelle Struktur der neuen Organisation auf 300.000 bis 400.000 Euro.
Zustimmung signalisieren auch die Deutsche Sporthilfe und die Nationale Anti-Doping Agentur (NADA). Wenn die Athletenvertreter sich auch angesichts internationaler Herausforderungen professionalisieren wollten, „findet das unsere volle Unterstützung“, sagt Michael Ilgner, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Sporthilfe. Und die NADA-Vorstandsvorsitzende Andrea Gotzmann erklärt: “Die Athletin und der Athlet stehen im Mittelpunkt des Sportgeschehens und von daher kann es ja nicht unser Ziel sein, eine schwache Athletenvertretung zu haben – im Gegenteil, dass die Athletinnen und Athleten ihr Recht bekommen, dopingfreien Sport auszuüben und sich hierfür auch einzusetzen.” Beim DOSB sieht man das offenbar anders. Gegenüber der ARD-Sportschau wollte der Verband jedenfalls nicht Stellung zum Plan der Athletenvertreter nehmen.
Die neue, unabhängige Interessenvertretung der Sportler soll und muss mit dem DOSB zusammenarbeiten, insbesondere in der Athletenkommission des Verbands. Klar ist aber: Die Stimme der Sportler soll schon bald sehr viel lauter und besser vernehmbar sein als bislang.
Quelle: sportschau.de